Kurze Geschichte des Judenlagers Gymelsdorferstraße/Richtergasse

1944 wurden Jüdinnen und Juden aus Ungarn nach Wiener Neustadt gebracht, um hier Zwangsarbeit zu leisten. Wegen der massiven Bombardements der Alliierten war es nämlich ab August 1943 zu erheblichen Zerstörungen in der Stadt gekommen. Die Aufmerksamkeit der NS-Führung galt vor allem der Industrie und der Südbahnlinie, denn die Rüstungsproduktion und die Transportmöglichkeiten über die Schiene sollten keinesfalls über längere Zeit ausfallen oder verloren gehen. Im Juni und Juli 1944 mussten sowjetische Kriegsgefangene mehrere Holzbaracken an der Gymelsdorferstraße (heute Gymelsdorfer Gasse) errichten. Das Areal des Lagers, das (wie nun neueste Erkenntnisse ergeben haben) südlich der Richtergasse lag, wurde mit einem hohen Drahtzaun umfasst. In das Judenlager in der Gymelsdorferstraße kamen Mitte Juli 1944 227 Jüdinnen und Juden. Den Großteil von ihnen bildeten Frauen und Kinder. Häftlinge im Alter ab 13 Jahren galten als „arbeitsfähig“. Häftlinge im Alter ab 60, Kinder bis zum 12. Lebensjahr, darunter auch Kleinkinder, waren „arbeitsunfähig“ und wurden deshalb keinen Arbeitseinsätzen zugeteilt. Obgleich während des Bestehens des Judenlagers durchschnittlich rund 230 Personen inhaftiert waren, bestimmte die SS-Leitung des Lagers - ab September 1944 - davon nur zwischen 119 und 128 Personen als „arbeitsfähig“. 

Der jüdische Lagerschreiber, Dr. Dezsö Neuberger, notierte handschriftlich in das Lager-Journal, also in eine Art Tagebuch für diverse Einträge: „Ein jeder Jude von zwei Jahren muss das jüdische Kennzeichen [Judenstern] auf der linken Brustseite auffallend tragen. Falls er keinen Rock [Jacke] trägt, so auf dem Gilet [Weste], Hemd oder an der linken Seite der Hose, falls er kein Hemd trägt. Dieses [Verpflichtung] besteht für den Arbeitsplatz ebenfalls. Das Lager darf ohne Erlaubnis und Begleitung nicht verlassen werden. Kein Jude darf sich mit Fremden in ein Gespräch einlassen, Geschenke empfangen oder betteln, stehlen, da dies besonders streng bestraft wird. Kleider zu verkaufen, ist strengstens verboten.“ (Quelle: Werner Sulzgruber, Das jüdische Wiener Neustadt, Wr. Neustadt 2010, S. 182. - zum Zwecke der Verständlichkeit geringfügig veränderte Fassung des Originals) 

Die tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden, die anstrengenden Aufräumungs- und Schuttarbeiten, die geringe Versorgung und die Schläge der SS-Wachmannschaft forderten ihren Tribut. Häftlinge erkrankten, starben und wurden in einem Massengrab verscharrt. Fälle von Scharlach und Typhus wurden gemeldet und die betreffenden Häftlinge aus dem Lager entfernt. Wiesen Insassen Kopf- oder Kleiderläuse auf, dann wurde ihnen der Kopf geschoren, ansonsten nicht. Eine ärztliche Mindestversorgung war gegeben, da nicht nur der inhaftierte jüdische Arzt Dr. Dezsö Rona kleine Eingriffe vornehmen durfte bzw. musste, sondern auch ein Wiener Neustädter Arzt dem Lager Kontrollbesuche abstattete. Da schwangere Frauen im „Judenlager“ eingesperrt waren, kam es sogar zu Geburten. Schwerere medizinische Fälle wurden im Wiener Neustädter Spital behandelt. Den Häftlingen des „Judenlagers“ diese medizinische Basis-Versorgung zukommen zu lassen, fußte nicht auf Menschlichkeit, sondern folgte nur dem Zweck, die Arbeitsfähigkeit möglichst lange zu erhalten. 

1944 bis 1945 wurden jüdische Häftlinge aus Wiener Neustadt in das KZ Bergen-Belsen deportiert und ermordet: männliche Jugendliche und Männer im Alter von 17 bis 64 Jahren. Im Frühjahr 1945 wurde das Lager „evakuiert“. Das heißt, alle Häftlinge mussten Ende März die Stadt verlassen, nachdem die sowjetischen Truppen immer näher kamen. Der Befehl lautete dahingehend, die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter nach Mauthausen zu bringen. Da allerdings Bahnverbindungen (zum Beispiel Strasshof) zerstört waren, mussten die ausgehungerten Menschen – Männer, Frauen und Kinder – zu Fuß ihren Zielort erreichen. Ihnen stand ein so genannter „Todesmarsch“ bevor.


Von Osten festgehaltene Luftaufnahme des Areals, auf dem sich später das „Judenlager“ 1944/45 erstreckte. Sichtbar ist die Gymelsdorfer Gasse - von Norden (rechts) nach Süden (links) verlaufend - bis zum Bahndamm sowie die östlich liegenden Holzplätze mit Ablageflächen, Wegen und Holzschuppen. Das südwestlich der Gymelsdorfer Gasse liegende Areal war ein Teil des Schlachthofs. (Foto: Sammlung TOWN, www.zeitgeschichte-wn.at, aufgenommen ca. 1918)


Andere Judenlager in Wiener Neustadt: Lager Salzer

Das „Judenlager Gymelsdorferstraße“ war nicht das einzige Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter/innen. Es gab zumindest ein weiteres für zirka 50 Juden an der Pottendorfer Straße, das die Bezeichnung „Lager Salzer“ trug.



Autor: Werner Sulzgruber

 

 

 

Judenlager ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter/innen in Wiener Neustadt
Aus dem Gedächtnis verloren?